Dienstleistung: Fluchthilfe
26. April bis 21. Juli 2001
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Im westdeutschen Frontstaat des Kalten Krieges galt die “Flucht aus dem kommunistischen Machtbereich” als politische Abstimmung mit den Füßen. Flucht aus dem Osten war politischer Legitimationsgewinn und zugleich Arbeitskräftezuwachs im Lande des “Wirtschaftswunders”. Begriffe wie “Flüchtling” und “Fluchthilfe” waren demgemäß eher positiv besetzt. Flucht wird heute in Deutschland vielfach in anderer Weise wahrgenommen. Neben das Schreckbild des Asylsuchenden sind in den 90er Jahren die neuen Feindbilder des “Illegalen” bzw. des “Schleusers” und “Schleppers” getreten. Auch in diesem Fall gilt die von Howard S. Becker formulierte Grundeinsicht der Devianztheorie: “Abweichendes Verhalten wird von der Gesellschaft geschaffen. … Gesellschaftliche Gruppen schaffen abweichendes Verhalten dadurch, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern stempeln.” Die Zuschreibungen von Abweichung haben u. a. die Funktion, Normalität zu definieren bzw. gemeinschaftsstiftende Rituale zu initiieren, die das nationale Kollektiv integrieren.
Gerade in den privilegiertesten Ländern, welche nicht müde werden, die Erhöhung der Bewegungsfreiheit von Kapital und Informationen unter dem Schlagwort der “Globalisierung” zu propagieren, herrscht eine ausgesprochen protektionistische Mentalität, was die Freizügigkeit der Menschen betrifft. Die EU hat sich angesichts ihrer Abschottung nach außen das Image einer “Festung Europa” verschafft. Kaum 5% der weltweit erfaßten Flüchtlinge und Vertriebenen versuchen ihr Glück als Asylbewerber in Europa und Nordamerika. Nur 0.2% von ihnen gelingt es, sich dort niederzulassen - wobei von diesen wenigen wiederum 95% in Nordamerika und lediglich 5% in Europa landen.(1)
Nichtsdestoweniger ist das Verständnis für Flucht und Migration gemäß den in dieser Woche veröffentlichten Ergebnissen der EUROBAROMETER-Befragungen vom Mai 2000 außerordentlich gering. So akzeptiert lediglich ein Viertel der Bevölkerung der EU Asylsuchende, die “unter Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land zu leiden haben” (25%) bzw. Flüchtlinge aus “Ländern mit schwerwiegendem internen Konflikt” (28%). Deutschland zählt ungeachtet seiner eigenen Migrationsgeschichte mittlerweile zu den europäischen Ländern mit der niedrigsten Toleranz gegenüber Asylsuchenden und Flüchtlingen (17% bzw. 19%), während Österreich im Mittelfeld liegt (28% bzw. 27%) und manche skandinavische Länder wie etwa Schweden eine ungleich tolerantere Haltung zeigen (42% bzw. 47%).(2)
Die Problematik von Migration und Flucht wird sich im 21. Jahrhundert dramatisch verschärfen. Der Treibhauseffekt schreitet so gut wie ungebremst voran. Als einer seiner “externen Effekte” ist zu erwarten, daß er in den nächsten 50 Jahren bis zu einer Milliarde Menschen zu Flucht und unfreiwilliger Wanderung zwingen wird.(3) Fragen der Wanderung müssen deshalb in Zusammenhang mit allen Überlegungen, die sich auf eine “zukunftsfähige Entwicklung” beziehen, einen größeren Stellenwert einnehmen, als dies etwa noch in der in Rio im Jahre 1992 verabschiedeten “Agenda 21” der Fall ist.
Vor diesem Hintergrund hat der Kunstraum der Universität Lüneburg die Wiener Künstler Martin Krenn und Oliver Ressler eingeladen, ein Projekt zu entwickeln, das Fragen von Migration und Flucht thematisiert. Krenn und Ressler haben daraufhin im Rahmen eines Seminars gemeinsam mit einer Gruppe von Studierenden der Kulturwissenschaften im WS 2000/01 eine Ausstellung konzipiert, für die sie in Anspielung auf den im Kunstdiskurs des letzten Jahrzehnts populären Begriff der “Dienstleistung” den Titel “Dienstleistung Fluchthilfe” gewählt haben. In diese Ausstellung fließen auf Interviews bzw. Beobachtungen gestützte und in Videos dokumentierte Recherchen ein, die u. a. an den südlichen und östlichen EU-Außengrenzen - im Raum Frankfurt / Oder und an der österreichisch-slowenischen Grenze südlich von Graz - sowie in Wien, Hamburg und Lüneburg durchgeführt werden. Eine Wandinstallation setzt sich kritisch mit gängigen Repräsentationsmustern von Migration und Fluchthilfe auseinander und dokumentiert die Arbeit von Gruppen, die sich im Kampf gegen Rassismus und Xenophobie engagieren.
1) Philippe Rekacewicz (2001). Der Süden trägt die Last der Flüchtlinge. Le Monde diplomatique, April 2001, S. 12-13.
2) Eva Thalhammer u. a. (2001), Attitudes towards minority groups in the European Union. A special analysis of the Eurobarometer 2000 survey on behalf of the European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia. Vienna, S. 34-36.
3) Vgl. Alain Lipietz (2000), Die große Transformation des 21. Jahrhunderts. Münster.
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Projektgruppe Lüneburg: Tina Dust, Uta Gielke, Maja Grafe, Nina Heinlein, Patricia Holder, Mara Horstmann, Sarah Kaeberich, Nina Koch, Susanne Neubronner, Astrid Robbers, Stig Oeveraas, Sabine Zaeske
Geleitet von Oliver Ressler – https://www.ressler.at
Das Projekt “Dienstleistung: Fluchthilfe” wurde in Zusammenarbeit mit dem Kunstraum der Universität Lüneburg im Zusammenhang mit dem Projekt “Agenda 21 — Universität Lüneburg” realisiert und durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, Osnabrück, gefördert.